Nacherleben
Im Zuge der Herausbildung einer auf naturwissenschaftlicher Grundlage beruhenden experimentellen Psychologie (Fechner, Wundt) erfährt auch die Ästhetik einen erheblichen Wandel. Statt von Ideen abgeleitet zu sein, wird sie nun gleichsam »von unten« (Fechner) aufgebaut: Ausgangspunkt ist das subjektive Erlebnis bzw. das rezeptive N. Zentral in den Vordergrund rückt das N. dann im Dilthey’schen Konzept der Hermeneutik und einer darauf basierenden allgemeinen Theorie der Geisteswissenschaften, die in der Trias Erlebnis, Ausdruck und Verstehen gründet. Während die Naturwissenschaften, so Diltheys Ansicht von der frühen Abhandlung Ideen über eine beschreibende und zergliedernde Psychologie (1894) bis zum Aufbau der geschichtlichen Welt in den Geisteswissenschaften (1910), die Natur kantisch als Dasein unter Gesetzen »erklären«, »verstehen« die Geisteswissenschaften die Objektivationen des Lebens und der Geschichte als Ausdruck menschlicher Erlebnisse. Den Vollzug des Verstehens definiert daher Dilthey unter Rückgriff auf romantische bzw. Schleiermacher’sche Überlegungen als N., Hineinversetzen und Nachbilden. Wir verstehen uns selber und andere nur, »indem wir unser erlebtes Leben hineintragen in jede Art von Ausdruck eigenen und fremden Lebens.« Diltheys Methode, die, worauf schon zeitgenössische Kritiker (etwa Lukács) hingewiesen haben, den Psychologismus nicht überwinden kann, hat dennoch im 20. Jh. eine erstaunliche Resonanz nicht nur in den Kunst- und Literaturwissenschaften (etwa Sedlmayr oder Staiger), sondern auch noch in der Pädagogik oder Philosophie (Nohl, Spranger, Bollnow, Gadamer) gefunden.
WJ
LIT:
- O. F. Bollnow: Dilthey. Eine Einfhrung. Schaffhausen 41980
- K. Sauerland: Diltheys Erlebnisbegriff. Berlin/New York 1972.