Radikaler Konstruktivismus
spezieller Ansatz der konstruktivistischen Erkenntnistheorie, der unter anderem von H. Maturana, F. J. Varela, H. v. Foerster, E. v. Glasersfeld in den sechziger und siebziger Jahren dieses Jahrhunderts entwickelt wurde; Vertreter des R. K. in Deutschland sind etwa P. Watzlawick und S. J. Schmidt. Ausgehend von systemtheoretischen, neurophysiologischen und kybernetischen Forschungen formuliert der R. K. eine empirische Kognitionstheorie, die in Fortsetzung skeptischer und konstitutionstheoretischer Überlegungen jegliche Form der Erkenntnis – einschließlich des Erkannten selbst – als Konstruktion eines Beobachters begreift. Erkennen meint nicht passive Abbildung einer äußeren objektiven Realität, sondern bezeichnet einen Prozess der eigenständigen Herstellung bzw. Konstruktion einer kognitiven Welt. Damit wird die Existenz bzw. die Realität der äußeren Welt nicht geleugnet, bestritten wird aber die erkenntnistheoretische Relevanz einer ontologischen Darstellung der Welt. Die reale Welt als solche ist keine erfahrbare Wirklichkeit; Wirklichkeit ist vielmehr immer wahrgenommene, beobachtete, erfundene, also konstruierte Wirklichkeit. Als Ausgangspunkt dient dem R. K. die neurophysiologische Einsicht, dass das menschliche Gehirn als Teil des Nervensystems über keinen direkten, unmittelbaren Zugang zu seiner Umwelt verfügt. Das Gehirn operiert als ein selbstreferentiell-geschlossenes System, das sich in seinen Aktivitäten ausschließlich rekursiv auf sich selbst bezieht und auf diese Weise eine semantisch und kognitiv abgeschlossene Welt erzeugt. Damit ist nicht ausgeschlossen, dass das Gehirn durch Umweltereignisse irritiert oder angeregt wird, aber allein die internen Operationen des Gehirns legen fest, in welchem Sinne die externen Ereignisse verarbeitet werden. Strenggenommen ist somit auch Irritation und Anregung ein systemeigener Zustand, für den es in der Umwelt des Gehirns keine Entsprechung gibt. Insofern operiert das Gehirn selbstexplikativ – das Gehirn muss alle Bewertungs- und Deutungsmuster mittels eigener Operationen aus sich selbst schöpfen. Auf Kritik ist die Annahme des R. K. gestoßen, dass jede Form der Kognition von lebenden Systemen erzeugt wird und somit als ein biologisches Phänomen zu begreifen ist (Reduktionismusvorwurf). Als aussichtsreichste Weiterentwicklung des R. K. kann derzeit die Systemtheorie von N. Luhmann gelten, der streng zwischen lebenden, psychischen und sozialen Systemen unterscheidet, die auf ihre je eigene Weise ihre Umwelt beobachten bzw. sich selbst beobachten.
GK
LIT:
- S. J. Schmidt: Der Diskurs des Radikalen Konstruktivismus. Frankfurt 1987.