Intellectus
(Verstand/Vernunft), bezeichnet im MA. das geistige Erkenntnisvermögen, gelegentlich auch das Erkennen selbst oder auch den Inhalt eines Denkaktes (Begriff). Im Bemühen darum, griechische Unterscheidungen (nous, noesis, dianoia etc.) im Lat. wiederzugeben, wird der Ausdruck I. nicht einheitlich gebraucht. – Die ma. I.-Lehre findet ihre klassische Gestalt bei Thomas v. A.: Im Unterschied zu reinen Intelligenzen ist der menschliche I. diskursiv angelegt: Er erfasst, was etwas ist, im Begriff, und er verbindet oder trennt Begriffe im Urteil, während die Vernunft (ratio) die Ordnung der Urteile im Schluss erkennt. Die zentrale Leistung des menschlichen I. aber ist die Einsicht in die Wahrheit des Urteils, welche die Zustimmung zur Urteilsaussage begründet. Menschliches Erkennen erfolgt entweder als unmittelbares Einsehen (intelligere) aufgrund des Erfassens der Begriffe (›Der Teil ist kleiner als das Ganze‹) oder als begründetes Wissen (scire) dadurch, dass man schlussfolgernd auf andere schon als wahr erfasste Urteile rekurriert. Der I. erkennt die Wesensform einer Sache, indem er aufgrund einer ihm immer verfügbaren Aktualität (er »denkt immer«) sich den Vorstellungen zuwendet und aus der zunächst nur dem sinnlichen Eindruck nach erfassten Wesensart (Species sensibilis) die eigentliche, nur geistig erkennbare Wesensart (species intelligibilis) mit Hilfe von begrifflichen Unterscheidungen in Form einer Definition explizit zum Ausdruck bringt. Hinsichtlich dieser aktiven Leistung wird der I. tätiger Verstand (i. agens) genannt und mit der Lichtmetapher umschrieben: Wie erst das Licht die Farben, die im Dunklen nur potentiell farbig sind, aktuell farbig werden lässt, so macht erst der tätige Verstand das nur potentiell Erkennbare zu einem wirklich Erkannten. In diesem Sinne deutet Thomas das Einsehen (intelligere) als ein Herauslesen dessen, durch was etwas innerlich bestimmt ist (quasi intus legere). Der I. wird möglicher Verstand (i. possibilis) genannt, insofern er offen für eine mögliche Erkenntnis ist, bzw. erleidender Verstand (i. passibilis), insofern er bei der Erkenntnis einen Übergang vom Vermögen zu erkennen zum wirklichen Erkenntnisakt erfährt (actus/potentia). In der neuplatonischen Tradition wird das Licht des menschlichen Verstandes meist als göttliche Einstrahlung, im aristotelischen Denken dagegen als ein wohl von Gott geschaffenes (Causa), jedoch dem Menschen bleibend mitgeteiltes Verstandeslicht aufgefasst.
II. – G. Wouter: Anthropologie und Erkenntnistheorie. In: A. Speer (Hg.): Thomas von Aquin: Die Summa theologiae. Berlin/New York 2005. S. 125–140.
CS
LIT:
- Thomas v. A.: De veritate q.10 a.8; q.14 a.1; S.th.I q.79 a.2f; q.84 a.6 f
- Ch. Schrer: Praktische Vernunft bei Thomas von Aquin. Stuttgart 1995. Kap.