Verstand
Insofern der V. den Gegenbegriff zur Vernunft bildet, stehen beide in der Nachfolge des griech. Begriffspaars dianoia/Nous einerseits, des lat. ratio/Intellectus andererseits. – Während die dianoia bei Aristoteles das abstrakte Vermögen bezeichnet, die immanente logische Struktur gedanklicher Inhalte beispielsweise mit Hilfe von Definitionen oder Schlussfolgerungen zu analysieren, befasst sich der nous mit der Frage nach den gewissermaßen externen ersten und letzten Gründen bzw. Ursachen von Denken und Sein. Die Schwierigkeiten einer sachlich begründeten Grenzziehung zwischen nous und dianoia einerseits, ihrer Verhältnisbestimmung, u. a. zum Logos, andererseits, sorgten für eine überaus wechselvolle Begriffsgeschichte und einen sehr schwankenden Gebrauch der jeweiligen Übersetzungen. – Im lat. geprägten MA. kann »ratio« deshalb sowohl als Oberbegriff für das gesamte geistige Vermögen dienen, so bei Augustinus. Sie kann aber auch die heute noch, etwa in Freuds Rede von der verkürzenden »Rationalisierung« komplexer, »unbewusster« Zusammenhänge, anklingende Beschränkung auf »dianoetische«, formale Schluss- und Ableitungsbeziehungen erfahren, so etwa bei Thomas. – In wiederum auffälliger Akzentverschiebung erscheint der V. bei Kant als zentraler Begriff von dessen »kritischem« Versuch, die transzendentalen »Bedingungen der Möglichkeit von Erkenntnis« herauszuarbeiten. Der V. figuriert dort als Inbegriff derjenigen Regeln und Grundsätze, die für die »objektive Gültigkeit« von Erkenntnis »konstitutiv« sind. Er ist Sitz der logischen »Urteilsformen« und vor allem der diesen entsprechenden »reinen Verstandesbegriffe« oder Kategorien, die als »wahre Stammbegriffe des reinen Verstandes« (KrV B 107) angesehen werden. – In der Nachfolge Kants kritisierte insbesondere Hegel die Fixierung des V.es auf bloß endliche Bestimmungen, ohne zur vernünftigen Struktur des Wirklichen durchzudringen.
DIK
LIT:
- Aristoteles: Analytica Posteriora
- Thomas v. Aquin: Summa Theologiae
- I. Kant: Kritik der reinen Vernunft. 1781/21787
- K. Oehler: Die Lehre vom noetischen und dianoetischen Denken bei Platon und Aristoteles. Mnchen 1962.