Ingenium
(lat. natürliches Talent, Charakter), im Allgemeinen die Begabung und die Naturanlage des Einzelnen. Im Rahmen der antiken Rhetorik steht das I. als Grundvoraussetzung der Rednerausbildung neben der Kunstfertigkeit (ars), dem Fleiß (studium), der Übung (exercitatio) und Nachahmung (imitatio), wird aber als die wichtigste Voraussetzung betrachtet, weil es nicht nachträglich erworben werden kann. Aufgabe des I. ist die originelle, scharfsinnige Auffindung (inventio) von Stoff und Form im Gegensatz zur Beurteilung (iudicium) des Angemessenen (aptum). Ein Überwiegen des I. führt zum Problem des Manierismus, ein Überwiegen des iudicium zum Klassizismus. In der Poetik- und Ästhetikgeschichte wird das I. mit »Ingenio«, »Esprit«, »Genie« oder »Witz« übersetzt und wird auf diese Weise zum Zentralbegriff der Genieästhetik. Die verbreitete Verbindung des I. mit dem Affekt der Melancholie geht auf die pseudo-aristotelischen Problemata zurück.
GN
LIT:
- J. Engels: Art. Ingenium. In: Historisches Wrterbuch der Rhetorik. Bd. 4
- W. Hempel: Zur Geschichte von spiritus, mens und ingenium in den romanischen Sprachen. In: Romanistisches Jb. 16 (1965). S. 2133
- J. Schmidt: Die Geschichte des Geniegedankens in der deutschen Literatur, Philosophie und Politik 17501945. 2 Bde. Darmstadt 21988.