Neuthomismus
unscharfe Sammelbezeichnung für eine Reihe philosophischer Ansätze des 19. und 20. Jh., die teilweise zur Neuscholastik zählen und ausdrücklich, aber in unterschiedlicher Weise an Thomas von Aquin anknüpfen. Wurzeln des N. liegen in der ungebrochenen thomistischen Tradition einiger Ordensschulen besonders der Dominikaner, später der Lazaristen und anderer Orden, die sich parallel zu sonstigen Entwicklungen in der katholischen Schulphilosophie (Barockscholastik, Verbindungen mit Rationalismus, Sensualismus u.a.) hielt. Als bewusste Reaktion auf derlei Tendenzen entstand zunächst in der 2. Hälfte des 18. Jh. in Italien eine Bewegung des Rückgriffs auf Thomas, im 19. Jh. auch im dt. und frz. Sprachraum, teilweise als Reaktion auf historisch orientierte dt. Theologieentwürfe. Diese Entwicklungen führten zur Enzyklika Aeterni Patris (1879), in der Leo XIII eine an Thomas orientierte Philosophie für die katholischen Bildungseinrichtungen empfahl, sowie zu den ersten einigermaßen kritischen Thomaseditionen (Editio Leonina, 1882 ff.). In der Folge wurde der N. zur vorherrschenden Denkschule im katholischen Raum bis zum 2. Vatikanischen Konzil (1962–65); der Versuch der Vatikanischen Studienkongregation, einen strikten N. zu verordnen (1914), setzte sich nicht durch. Neben dem N. hielten sich im Rahmen der Neuscholastik auch stärker an der spanischen Scholastik (Suarez, Molina u. a.) sowie an der Franziskanerschule (Duns Scotus, Ockham) orientierte Richtungen. Zum N., aber nicht mehr zur Neuscholastik i.e.S. zählen Ansätze im 20. Jh., die die Anliegen und Ergebnisse Thomas’ unter kritischer Berücksichtigung der Transzendentalphilosophie Kants und anderer neuzeitlicher Philosophien zu rekonstruieren versuchen (Maréchal, Rahner, Maritain, Bochenski u. a.). – Eine Bewertung des N. wird differenziert ausfallen: Im 19. Jh. führte die problematische Quellenlage und der großteils ahistorische Rückgriff auf Thomas unter Ausblendung neuzeitlicher Problemlagen häufig zur Berufung auf Autoritätsargumente, ungeklärte Evidenzen und zu einem naiv-vergegenständlichenden Denken. Verstärkte Bemühungen um ein historisch angemessenes Thomasverständnis seit dem späten 19. Jh. (Grabmann, Gilson u.a.) erleichterten die Trennung von Thomas’ bleibend relevanten Einsichten und deren überholter weltbildbedingter Einbettung.
WL
LIT:
- E. Coreth/W. M. Neidl/G. Pfligersdorffer (Hg.): Christliche Philosophie im katholischen Denken des 19. und 20. Jahrhunderts. Bd. 2. Graz/Wien/Kln 1988.