Vaiśeṣika
(sanskrit: Unterscheidung(-slehre)). Die beiden klassischen indischen Systeme V. und Nyāya haben sich im Laufe der Geistesgeschichte so aneinander angenähert, dass die beiden nicht nur nach traditioneller Anschauung als zusammengehörig oder einander ergänzend betrachtet werden (Frauwallner, Hiriyanna, u. a.). Der Grundtext des V. sind die V.-Sūtra des Kaṇāda, an die sich – wie bei den anderen indischen Systemen – eine umfangreiche Kommentarliteratur anschließt. Das V. lässt sich nur schwer an andere Strömungen der indischen Geistesgeschichte anschließen. Es geht von einer objektiv erkennbaren Realität aus. Seine Leistung besteht in der Erstellung einer Ontologie, in der konsequent zwischen sechs Kategorien (padārtha) des Erkennbaren unterschieden wird: Substanz (dravya), Qualität (Guṇa), Bewegung oder Handlung (karma), Gemeinsamkeit (sāmānya), Verschiedenheit (viśeṣa) und Inhärenz (samavāya). Dabei bezeichnen die drei Letzteren die Beziehung alles objektiv Existierenden zueinander. Im gemeinsamen System von V. und Nyāya wird noch eine siebte Kategorie aufgeführt, das Nicht(da)sein (abhāva), die den anderen sechs Kategorien des Seins (bhāva) gegenübersteht. Substanz ist die wichtigste Kategorie, da Substanzen die Voraussetzung für Qualität und Bewegung sind. Von einem reinen Materialismus unterscheidet sich das V. jedoch dadurch, dass es zu seinen Substanzen neben Erde (kṣiti), Wasser (āp), Feuer (tejas), Luft (marut) – den vier Elementen (bhūta) – auch das psychische Organ (manas) und Äther (ākāsá), Zeit (kāla), Raum (diá) und Seelen (ātman) zählt, wobei die fünf erstgenannten atomistisch und unendlich klein, die vier Letzteren aber unendlich groß und alldurchdringend sind. Die kleinsten Elemente der erkennbaren Realität sind also für das V. die Atome (aṇu, paramāṇu). Erlösung besteht für das V. in der Erkenntnis der Kategorien; durch diese gelangt die Seele in einen Zustand, in dem ihr die Qualitäten, die sie an den Saṃsāra binden, nicht mehr manifest sind.
MD
LIT:
- E. Frauwallner: Geschichte der indischen Philosophie. Bd. 2. Salzburg 1957
- W. Halbfass: On Being and What There Is: classical Vaiśeṣika and the History of Indian Ontology. Albany 1992
- M. Hiriyanna: Vom Wesen der indischen Philosophie. Mnchen 1990. S. 120 ff
- S. Jambuvijaya: Vaiśeṣikasūtra of Kaṇāda with the Commentary of Candrānanda. Baroda 1961 (bersetzung) G. Kaviraj: Gleanings from the History and Bibliography of the Nyāya-Vaiśeṣika-Literature. Calcutta 1961
- K. H. Potter (Ed.): Encyclopedia of Indian Philosophies. Indian Metaphysics and Epistemology. The Tradition of Nyāya-Vaiśeṣika up to Gangeśa. Delhi 1977.