Avidyā
(sanskrit, Nicht-Wissen). Wissen (vidyā) ist in der indischen Geistesgeschichte schon früh ein Mittel, Macht und Heil zu erlangen. Eine der ständig wiederkehrenden Formeln der Brāhmaṇas (Veden) und der sich diesen anschließenden Literatur nach der Darlegung eines Sachverhalts lautet: »Wer dieses weiß, geht ein in die Himmelswelt, erreicht die Unsterblichkeit« usw. Unsterblichkeit erreicht man entweder durch entsprechende Werke (Karma) oder durch Wissen (Śatapatha-Brāhmaṇa 10.4.3.9.). Umgekehrt führt Nicht-Wissen zu unheilvollen Zuständen (Aitareya-Brāhmaṇa 8.27. 1.; Chāndogya-U. 1.10.11.). Die in den Upaniṣaden aufkommenden Lehren von der Wiedergeburt (Saṃsāra), vom Karma und die daran anknüpfende Erlösungslehre (Mokṣa) binden auch die magische Auffassung von Wissen und Unwissen in ihr System ein. Nicht-Wissen (A.) kettet an das Karma (Muṇḍaka-U. 1.2.8.f.) und somit an den Kreislauf der Geburten. Im Vedānta ist es das dem Einzelwesen angeborene Nicht-Wissen, das durch die Māyā die Vielheit der Objektwelt verursacht und verhindert, dass die Einzelseele (Ātman) eins wird mit der Allseele (Brahman). Nicht ohne Grund steht im Buddhismus A. (Pāli: avijjā) an der Spitze des Kausalnexus des Geburtenkreislaufes (pratītyasamutpāda, Pāli: paticcasamuppāda). Nicht-Wissen ist als Synonym für Verblendung (moha) – ähnlich wie Māyā – der Grund, dass man die Existenz als unvergänglich, glücklich, seelenhaft und rein betrachtet. Sie ist eine der Wurzeln (mūla) des Begehrens, des Hasses, des Übels und des Leidens, die es zu vernichten gilt, um Erlösung zu erlangen.
MD