Nichtwissen
Innerhalb des sokratischen Denkens stellt die Einsicht in das eigene N. zum einen ein Moment der Selbstbegrenzung des menschlichen Wissens gegenüber dem göttlichen dar, da »die menschliche Weisheit sehr weniges nur wert ist oder gar nichts« (Apologie 23a), zum anderen ist sie ein wesentliches Moment in der reflexiven Selbstbegründung des Wissens. In dem von Sokrates angewandten elenktischen Verfahren (Elenktik) der Wissensprüfung kommt es im Sinne des delphischen »Erkenne dich selbst« wesentlich darauf an, scheinbares von gesichertem Wissen zu unterscheiden. Die Gesprächspartner des Sokrates befinden sich zumeist auf der Stufe eines naiven Selbstbewusstseins, bis durch die Prüfung ihr vorgebliches Wissen als Scheinwissen entlarvt wird und das Selbstbewusstsein sich in Unsicherheit und Verlegenheit wandelt bis hin zur zunächst zögernden Einsicht in das eigene N. Ist dieser Punkt erreicht, so ist der Weg offen für die Suche nach wirklichem Wissen und die Bereitschaft zu lernen. Daher ist Sokrates dafür berühmt, dass er die Menschen dahin bringt, dass sie nicht mehr weiter wissen (Theaitet 149a). In der Aporie, der Ausweglosigkeit, erfolgt die Destruktion des Scheinwissens, die die Voraussetzung für eigentliches Wissen ist, denn wer glaubt zu wissen, der sucht nicht mehr. So heißt es im Menon: »Glaubst du nun, er würde sich vorher bemüht haben, das zu suchen oder zu lernen, was er glaubte zu wissen, ohne es zu wissen, bevor er überzeugt, nicht zu wissen, in die Aporie geriet und sich nach dem Wissen sehnte« (84c). Auch im Symposion (204a–b) wird das Wissen des N.s als Antrieb des Philosophierens bezeichnet: Es philosophieren weder die Weisen, denn sie sind im Besitz des Wissens, noch die ganz Unverständigen, denn sie wissen nicht, dass ihnen etwas fehlt, sondern diejenigen, die erkennen, dass sie nicht wissen. Der Dialog Charmides erwägt als Bestimmung der Besonnenheit (sophrosyne) die Verbindung von reflexiver Selbsterkenntnis mit Sacherkenntnis: »Denn wenn, wie wir anfänglich annahmen, der Besonnene wüßte, was er weiß und was er nicht weiß, das eine, daß er es weiß, und das andere, daß er es nicht weiß, und auch einen anderen, wie es eben hierin mit ihm steht, zu beurteilen imstande wäre, dann wäre es uns, das können wir behaupten, höchst nützlich, besonnen zu sein« (171d). Docta ignorantia.
FPB
LIT:
- F.-P. Burkard: Die menschliche Weisheit. Gedanken zu Sokrates. In: W. Baumgartner (Hg.): Gewiheit und Gewissen. Wrzburg 1987. S. 6378.