Natur,zweite
(lat. altera oder secunda natura), im Allgemeinen die Bezeichnung für eine aus Gewohnheit und Erziehung stammende Prägung der Lebewesen, vornehmlich des Menschen sowohl in körperlicher als auch geistig-emotionaler und moralischer Hinsicht. Obwohl der Ursache nach von der Natur (griech. physis) verschieden, hat die z.N. ihrer Wirkung nach mit jener weitgehende Ähnlichkeit, sofern die durch Gewohnheit etablierten Akte mehr oder weniger unwillkürlich vollzogen werden. – Der Sache nach bereits im vorsokratischen Denken greifbar, ist in Platons Staat (395 c, d) ausdrücklich der Weg skizziert, der durch Nachahmung (mimesis) über Gewöhnung (ethos) zu naturhaftem Verhalten führt. Die besondere Bedeutung dieses Vorgangs für die Ausbildung sittlichen Handelns betont Aristoteles (Eth. Nic. 1103 a f). – Bei den Kirchenvätern (Tertullian, Augustinus) wird der Begriff z. N. verwendet zur Charakterisierung der menschlichen Existenz nach dem Sündenfall, durch den eine erste Natur paradiesischer Unschuld zu Ende gekommen sei. – In der Neuzeit gilt die z.N. je nach Perspektive als zu überwindender Zustand oder als zu leistende Aufgabe, Letzteres besonders in der idealistischen Philosophie. Im Materialismus avanciert die z. N. zum Gegenstand kritischer Analyse. – A. Gehlen bezeichnet die Kultur als z.N. des Menschen, die er sich schafft, um die »Mängel« seiner ersten Natur zu bewältigen, und die er als ihm entsprechende, lebenssteigernde Welt selbst hervorbringt.
RW
LIT:
- G. Funke: Gewohnheit. Bonn 1958
- W. L. Thieme: Die Gewohnheit als zweite Natur. In: Logos 19 (1930). S. 105 ff.