Moral
bezeichnet den Inbegriff moralischer Normen, Werturteile und Institutionen. M. beschreibt ein vorhandenes Verhalten in einer Gemeinschaft und umfasst alle Ordnungs- und Sinngebilde, die durch Tradition oder Konvention vermittelt werden. In Form eines Katalogs materialer Norm- und Wertvorstellungen regelt sie die Bedürfnisbefriedigung einer menschlichen Gemeinschaft und bestimmt deren Pflichten. M.en differieren in Bezug auf den Inhalt ihrer Normen von Kultur zu Kultur. Sie unterliegen geschichtlichen Veränderungsprozessen und wandeln sich entsprechend den veränderten menschlichen Selbstverständnissen. Der Sollensanspruch der M. ist unabhängig von dem veränderlichen Inhalt der Normen und Gebote. D.h. für jede M. ist ein Anspruch auf allgemeine Verbindlichkeit konstitutiv. Ohne einen solchen Geltungsanspruch würde sie ihre Ordnungsfunktion für eine menschliche Gemeinschaft verlieren. Neben der Auffassung von M., die sich auf die Probleme der Gerechtigkeit, der Achtung vor dem Leben, dem Wohlergehen und der Würde der anderen Menschen beziehen, macht Taylor geltend, dass auch solche Fragen einbezogen werden müssen, die das Empfinden der eigenen Würde und Fragen, wodurch unser Leben einen Sinn erhält oder Erfüllung findet, betreffen. Damit werden Fragen der eigenen Lebensführung und die Frage, welche Art von Leben (für mich) lebenswert ist, in das Selbstverständnis von M. mit einbezogen.
PP
LIT:
- G. Patzig: Ethik ohne Metaphysik. Gttingen 1971. S. 3
- A. Pieper: Ethik und Moral. Mnchen 1985. S. 31 f
- Ch. Taylor: Quellen des Selbst. Frankfurt 1996.
Moral,offene/geschlossene
in seinem Spätwerk Les deux sources de la morale et de la religion (1932) unterscheidet Bergson eine geschlossene Moral und Gesellschaft von einer offenen. Die geschlossene Moral gründet darin, dass der Mensch von seiner natürlichen Veranlagung her auf Sozialität angelegt ist. Beim kraft seines Intellektes frei handelnden Menschen ordnen und ermöglichen die moralischen Regeln das Zusammenleben, eine Funktion, die etwa bei staatenbildenden Insekten der Instinkt gewährleistet. Dabei gilt als natürliche Notwendigkeit nur das Vorhandensein von Regeln als solchen und ihres Verpflichtungscharakters, während die Inhalte von kulturellen Einflüssen abhängig sind. Der Sinn der Regeln liegt in der Sicherung des Zusammenhalts und damit des Fortbestands der jeweiligen Gemeinschaft. Sie ist daher geschlossen, weil sie sich in der Abgrenzung zu anderen Gemeinschaften konstituiert. Die Leistung rationaler ethischer Prinzipien liegt für Bergson lediglich darin, logischen Zusammenhang in ein Verhalten zu bringen, das bereits den sozialen Forderungen unterworfen ist. Auch ihren obligatorischen Charakter erhalten sittliche Imperative durch Aneignung der bereits wirkenden Verpflichtung als solcher.
Dem gegenüber steht die offene Moral, die sich nicht auf den Raum einer Gesellschaft bezieht, sondern auf die gesamte Menschheit. Beide sind nicht aufeinander zurückführbar. Zwischen der Gesellschaft, in der wir leben, und der ganzen Menschheit besteht ein qualitativer Sprung. Im Fall der geschlossenen Moral stellt die Verpflichtung den Druck dar, den die Elemente der Gesellschaft aufeinander ausüben, um die Form des Ganzen aufrecht zu erhalten. Dieser ist durch die Natur fundiert und hat sich in der Stammesgeschichte entwickelt. Die offene Moral dagegen wird repräsentiert durch das Streben und Vorbild einzelner Persönlichkeiten, deren Wirken andere nachfolgen, und enthält die Idee der Liebe zur ganzen Menschheit. Innerhalb einer Gesellschaft existieren gewöhnlich beide Moralquellen nebeneinander, und, da sie zu durchaus unvereinbaren Inhalten gelangen können, im Konflikt miteinander. Beide sind jedoch für den moralischen Fortschritt erforderlich, weil die offene den engen Rahmen der geschlossenen erweitert und diese den Verpflichtungscharakter als solchen vermittelt. Den Fortschritt innerhalb von Moralvorstellungen erklärt Bergson durch die vorwärtstreibenden Ideen, die in außergewöhnlichen Persönlichkeiten zum Ausdruck kommen, und die die jeweils erstarrten Formen, in denen sich das sozio-kulturelle Leben festlegt und begrenzt, überwinden können.
FPB
LIT:
- H. Bergson: Les deux sources de la morale et de la religion. Paris 1932 (dt. Die beiden Quellen der Moral und der Religion. Frankfurt 1992)
- G. Bretonneau: Cration et valeurs thiques chez Bergson. Paris 1975.