Toleranz
in mehrfachem Sinn und in recht unterschiedlichem Umfang gebraucht: Verständnis und Anwendungsbereich, im Privaten wie im Politischen und Ideologisch-Dogmatischen, erstrecken sich von bloßem vorübergehenden Dulden zum prinzipiellen, aktiven Seinlassen des Andern als Anderem, von abgerungenem Geduldigsein zur Reibungen vermeidenden Tugend weitherzigen und friedfertigen Gewährenlassens, vom ungern gegebenen Zugeständnis in unentscheidbaren Sachen zum skeptischen Offenlassen strittiger Angelegenheiten, vom Zulassen von Ungenauigkeiten (Mess-T.) bis hin zur schieren Gleichgültigkeit. – Eine Analyse von Begriff, Forderung, Motiv, Begründung, Anerkennung und Grenzen der T. zeigt: T. ist ihrem Begriff nach von intentionaler Aktstruktur; sie wird von Personen oder Institutionen jemandem (Einzelpersonen, Gruppen) gewährt, von woher sie gefordert wird. Die Forderung der T. impliziert ihrerseits einen Zustand der Ungleichheit und die Forderung nach Überwindung einer einseitigen Abhängigkeit bzw. Erfüllung eines Anerkennungszustands. Als Motive für (pragmatische) T. fungieren argumenta Ad hominem, z.B. die Wirtschaftskraft von T. Begehrenden. Die Begründung der T.-Forderung rekurriert auf die in einer Kultur als autoritativ erkannten sog. hl. Schriften (etwa die Bibel), um aus ihnen die Berechtigung der Forderungen (der Gleichheit vor Gott) abzuleiten und/oder auf naturrechtlich universell verbürgte Gleichheit aller Menschen, schließlich auf die gemäß der klassischen liberalen Tradition geltende Autonomie vernünftiger Individuen. Die Anerkennung des Gleichheitszustands bezieht sich zunächst auf Menschen, nicht in gleicher Weise auf ihre Ideologien. Hinsichtlich der Ideologien stellt sich gleichzeitig die Frage nach den Grenzen der T. Ideologien mit politisch-dogmatischen Ambitionen aufgrund eines Berechtigungs- oder Wahrheitsanspruchs müssen sich rationaler Überprüfung und den oben genannten Begründungskriterien stellen. Dies gilt für T.-Geber wie T.-Fordernde.
WB
LIT:
- J. Locke: (4) Letters on Toleration. In: Works. VI. London 1823. Aalen 1963. S. 1574
- W. Baumgartner: Naturrecht und Toleranz. Wrzburg 1979
- G. Mensching: Toleranz und Wahrheit in der Religion: Mnchen/Hamburg 1966
- H. Mieville: Toleranz und Wahrheit. Ein philosophisches und politisches Problem. Bern 1955
- R. P. Wolff/B. Moore/H. Marcuse: Kritik der reinen Toleranz. Frankfurt 1968.