Vernunft
(griech. nous, logos, dianoia; lat. intellectus, ratio), etymologisch von »vernehmen« abgeleitet, hatte V. im ältesten Deutschen die Bedeutung von »richtig auffassen« sowie von »Überlegung« als dem Vermögen, das Aufgefasste im Geiste zu verarbeiten. Die antiken Griechen grenzten den Logos als objektive Kosmos-V., die zu klarer Einsicht in die ewigen und unveränderlichen Seinsstrukturen befähigt, sowohl vom Mythos als auch von der Aisthesis (sinnliche Wahrnehmung) ab. Im MA. wurde V. als Vermögen übersinnlicher Erkenntnis (intellectus) vom diskursiven, schlussfolgernden Denken (ratio) unterschieden. Seit der auf Eckhart und Luther zurückgehenden Übersetzungstradition von ratio wurde V. gewöhnlich mit dem im Gegensatz zu Verstand (intellectus) stehenden niederen Erkenntnisorgan identifiziert, das Sinneswahrnehmungen unter Begriffe bringt. Kant legt den philosophischen Gebrauch endgültig fest, indem er V. (ratio) dem diskursiven Verstand als das »Vermögen der Einheit der Verstandesregeln unter Prinzipien« überordnet.
Charakteristisch für die Begriffsgeschichte von V. in der abendländischen Philosophie ist das Gegensatzpaar von intuitiver und diskursiver V.-Erkenntnis. Seine Wurzeln liegen in der antiken Philosophie. Platon unterscheidet die intellektuelle Anschauung (noesis), die mittels des Nous, dem »Auge des Geistes«, die erfahrungstranszendenten Ideen erschaut, von der dianoia, die durch methodisches, begriffliches Denken zur Ideenerkenntnis aufsteigt. Indem Platon diese Bestimmungen als Formen der theoria (geistige Schau der Ideen) versteht, und diese wiederum dem dialogischen Denken überordnet, etabliert er ein solipsistisches V.-Verständnis. Obwohl bei Aristoteles der ursprüngliche Gebrauch von logos in der Doppelbedeutung von Rede und Denken festgehalten ist, verfestigt sich hier die Auffassung einer sprach- und kommunikationsunabhängigen V. dadurch, dass von einer bloß konventionellen, für wahre Erkenntnis daher vermeintlich irrelevanten, Zuordnung der sprachlichen Zeichen zu den Gedanken ausgegangen wird.
Die antike Vernachlässigung der Redefunktion und die einseitige Hervorhebung der logisch-semantischen Dimension des Denkens, von Apel als »Logosvergessenheit« charakterisiert, prägt die V.-Auffassung bis in die Gegenwart. Paradigmatisch für die mittelalterliche Wirkungsgeschichte der aristotelischen V.-Konzeption steht Thomas von Aquin. Mittels ratio (schlussfolgerndem Denken) sollen Urteile auf Grundeinsichten zurückgeführt bzw. aus Grundeinsichten abgeleitet werden können, die durch cognitio intellectualis (V.) intuitiv erfasst werden. – Die Vorstellung eines einsamen, von der öffentlichen Kommunikation enthobenen Denkens wird in der Bewusstseinsphilosophie (von Descartes bis Husserl) radikalisierend fortgetragen. Sie liegt auch Kants »Aufhebung« der überlieferten spekulativen Vorstellung einer durch unausweisbare Intuition und darauf aufbauender Deduktion bestimmten V. zugrunde. Kant betont den reflexiven Charakter der V., die sich in Form einer Kritik der reinen (theoretischen und praktischen) V. über die Bedingungen objektiver Erkenntnis und deren Grenzen Rechenschaft ablegen können müsse. Dies führt Kant zu einer Theorie der Verstandeserkenntnis, die nicht über den Bereich der Gegenstände möglicher Erfahrung hinausgehen dürfe. Der konstitutiven Erkenntnisfunktion des Verstandes sei hinsichtlich des erfahrungstranszendenten Bereichs eine lediglich regulative Funktion der V. zur Seite zu stellen, die Verstandeshandlungen auf die Einheit eines obersten intelligiblen Zweckes beziehe.
Die »Vergesellschaftung« der bei Kant noch gänzlich subjektiv auf die Einheit eines Selbstbewusstseins bezogenen V. kündigt sich im objektiven Idealismus Hegels an, der die Abhängigkeit der subjektiven V. von der sich in gesellschaftlichen Institutionen veräußernden, objektiven V. hervorhebt. Nachdem Herder und vor allem W. v. Humboldt auf die Sprachlichkeit der V. hingewiesen hatten, Wittgenstein die konstitutive Funktion einer intersubjektiv geteilten Umgangssprache für das Denken erwiesen hatte, explizierte schließlich die Universal- und Transzendentalpragmatik (Habermas, Apel) in Anknüpfung an Peirces Pragmatismus V. als Inbegriff von Argumentation bzw. Diskurs. Sie gewinnt damit das dialogisch-pragmatische Moment von V. zurück, das im Logos-Grundsatz des Sokrates (Kriton, 46 b), der den Anspruch auf dialogische Geltungsprüfung formulierte, implizit schon enthalten war. Durch das zweifache Sprach- und Kommunikationsapriori allen Denkens sei sowohl der intersubjektive Sinnanspruch der V. (durch Bezugnahme auf die reale Kommunikationsgemeinschaft) als auch ihr intersubjektiver Geltungsanspruch (Bezugnahme auf die regulative Idee eines idealen Konsenses der idealen Argumentationsgemeinschaft) gesichert. Durch diese V.-Konzeption kann der modernen Einsicht in die geschichtliche und kulturelle Relativität der V. ebenso Rechnung getragen werden wie dem unverzichtbaren Anspruch der V. auf universelle Geltung. Von einer Rekonstruktion der in jeder Äußerung notwendig erhobenen Geltungsansprüche (Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit, Wahrhaftigkeit) ausgehend, entwirft die Transzendentalpragmatik eine Theorie der Rationalitätstypen (praktische und theoretische V.; kommunikative, strategische, instrumentelle Rationalität), die Differenzierungen in den V.-Begriff einzuführen vermag, mit denen einer auf Kritik der instrumentellen V. zurückgehenden prinzipiellen V.-Skepsis entgegengetreten werden kann.
HGR
LIT:
- U. Anacker: Art. Vernunft. In: H. Krings u. a. (Hg.): Handbuch philosophischer Grundbegriffe. Mnchen 1974. Bd. 6. S. 15971612
- K.-O. Apel: Die Herausforderung der totalen Vernunftkritik und das Programm einer philosophischen Theorie der Rationalittstypen. In: Concordia 11 (1987). S. 223
- A. Berlich/D. Bhler: Art. Vernunft. In: Th. Meyer u. a. (Hg.): Lexikon des Sozialismus. Kln 1986. S. 696 ff
- D. Bhler/H. Gronke: Art. Diskurs. In: G. Ueding (Hg.): Historisches Wrterbuch der Rhetorik. Bd. 2. Tbingen 1994. Sp. 764819
- H. Schndelbach (Hg.): Rationalitt. Frankfurt 1984
- Ders.: Vernunft. In: E. Martens/H. Schndelbach (Hg.): Philosophie. Ein Grundkurs. Bd. 1. Reinbek 1991. S. 77115
- Ders.: Vernunft und Geschichte. Frankfurt 1987.
Vernunft,instrumentelle
von M. Horkheimer geprägter Begriff, der sich kritisch gegen den neuzeitlichen Typ des zweckrationalen Handelns (M. Weber) wendet. Zweckrationalität umfasst in ihrer ursprünglichen Bedeutung sowohl die wertrational orientierte Zwecksetzung als auch die rationale Mittelwahl. Im Begriff der i. V. wird der Aspekt der vernünftigen Bestimmung von Zwecken ausgeblendet. Damit geht die Behauptung einher, dass die menschliche Vernunft, sobald sie der Bereitstellung technischer und ökonomischer Mittel diene, ihre Zwecksetzungskompetenz verliere. Dieser Prozess lässt sich in folgenden Schritten rekonstruieren: (1) Die Vernunft dient seit der Neuzeit nur noch einem einzigen Zweck, d.h. der Selbsterhaltung des Individuums, die keine rationale Wahl mehr zulässt. Folglich wird die Vernunft »blind« gegenüber der Vielfalt möglicher Zwecke. (2) Die Vernunft dient nur noch dazu, Mittel zur Selbsterhaltung bereitzustellen; dadurch wird sie selbst zu einem bloßen Mittel »instrumentalisiert«, eben auf i. V. reduziert. (3) Alle Gegenstände und Handlungen verwandeln sich in eine »Welt von Mitteln«; waren sie ursprünglich Selbstzwecke (wie Wahrheit und Kunst), werden sie nun (unter den Bedingungen der Kulturindustrie) als Mittel unter den einen Selbsterhaltungszweck subsumiert. Auf diese Weise verkehren sich Zweck und Mittel. (4) Die technischen und ökonomischen Mittel verselbständigen sich gegenüber den menschlichen Zwecken und nehmen den Charakter »autonomer Wesenheiten« an. Hier mündet die Kritik der i. V. in die zeitgenössische und spätere Technokratiedebatte ein. Zweckrationalität, Mittel/Zweck.
JRO
LIT:
- J. Habermas: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt 1981
- M. Horkheimer: Zur Kritik der instrumentellen Vernunft. Frankfurt 1967.
Vernunft,praktische
In einer allgemeinen Bestimmung kann p. V. als der Anspruch des Menschen bezeichnet werden, sein Handeln an allgemeinen Grundsätzen zu orientieren und gemäß der Weisung allgemeinverbindlicher Normen begründen und rechtfertigen zu können. In dieser Fassung ist die p. V. ihrer Idee nach handlungsleitende Vernunft (Wieland). Dadurch sucht sie eine Antwort darauf zu geben, wie der Mensch sein Leben gestalten soll. Dieses allgemeine Verständnis tritt in der Tradition der Philosophie in verschiedenen Gestalten auf. Die Verschiedenheit resultiert aus der veränderten Auffassung, worin der Maßstab des Allgemeinen zu finden ist. Insofern stellt die p. V. immer auch eine Reflexion über das praktisch Vernünftige und den Maßstab des Vernünftigen dar. Dadurch beinhalten die Reflexionen der p.n V. eine doppelte Perspektive: Einerseits eine Vorstellung darüber, was Vernunft im Praktischen bedeute, und andererseits, was es heißt, das Handeln vernünftig zu bestimmen.
Für die Etablierung der p.n V. als einer gegenüber der theoretischen Vernunft selbständigen Fragerichtung sind zwei Unterscheidungen von Aristoteles grundlegend: (a) Der vernünftige Seelenteil (das Logistikon) unterscheidet sich von dem Epistemonikon (dem erkennenden Seelenteil) durch seine eindeutige Ausrichtung auf den Bereich der Praxis, d.h. auf die Fähigkeit, in Bezug auf das Handeln, richtige Überlegungen anzustellen. (b) Das Handeln unterscheidet sich vom Herstellen (Techne) hinsichtlich seiner spezifischen Zielstruktur. Beim Herstellen stellen die Ziele ganz bestimmte Produkte dar, die durch eine Tätigkeit hervorgebracht werden. Insofern ist die Redeweise berechtigt, dass das Ziel außerhalb der Tätigkeit liegt. Dagegen ist für das Handeln (Praxis) spezifisch, dass das Ziel im Akt bzw. durch den Vollzug verwirklicht wird. Die Relevanz der Differenzierung wird erst plausibel, wenn man hinzuzieht, worin das allgemeine Ziel des menschlichen Lebens bei Aristoteles besteht. Die Eudaimonie stellt das innere Ziel des Menschen dar, in dem sich der Mensch als Mensch realisiert. Eudaimonie heißt das »gute Leben« als »gelungenes Handeln«, das der Mensch um seiner selbst willen anstrebt und verwirklicht. Er sucht sein Ziel nicht außerhalb, da er sein Ziel nur durch die Verwirklichung seiner Natur, d.h. durch logoshaftes Handeln erreichen kann. Was der Vernunft gemäß ist, ist erkennbar und entscheidet sich an dem, was Sitte und Gesetz in der Polis ist. Die Vernunft im Praktischen ist bei Aristoteles durch den allgemeinen Zweck, nämlich das gute Leben in der Polis, vorgegeben. Der Wertmaßstab des guten Lebens ist im Vollzug der Handlung selbst zu suchen, nur die gelungene Praxis verbürgt p. V. Nur ein Wesen, das sich an dem Guten orientiert, handelt vernünftig. – Der Stellenwert der p.n V. verändert sich grundlegend, wenn diese teleologische Zweckstruktur nicht mehr ein Element des menschlichen Selbstverständnisses ist. Denn dadurch ist auch der Rahmen des Allgemeinverbindlichen nicht mehr selbstverständlich. Der p.n V. ist es nunmehr aufgegeben, von sich aus einen Maßstab zu finden, an dem sich das Handeln allgemein auszurichten hat. Der Utilitarismus verweist auf eine dem Handeln immanente Rationalitätsstruktur, nämlich die Abwägung der Handlungsfolgen nach subjektiver Nützlichkeit und Zuträglichkeit. Die p. V. erhält eine doppelte Struktur: Das hedonistische Kalkül stellt einerseits eine rein rechnerische, auf die Handlungswirklichkeit bezogene Vernunft dar – die Frage nach subjektiven Beweggründen erübrigt sich. Das von Bentham in dieses Kalkül projizierte Prinzip des größten Glücks der größten Zahl formuliert andererseits einen allgemeinen Ordnungsgedanken der ausgewogenen Verteilung der Güter, ohne dass ersichtlich ist, wie dieser allgemeine Maßstab sich mit dem Interesse nach subjektiver Befriedigung verbinden lässt. J. St. Mill kann der p.n V. nur den Sinn abgewinnen, dass sich der Handelnde diejenigen Regeln, die eine rationale Praxis ermöglichen, aus wissenschaftlichen Theorien beschaffen muss. Die Allgemeinheit der Regeln gründet in der wissenschaftlichen Erkenntnis, d.h. dem Wissen um allgemeine Gesetze, um Ursache-Wirkungs-Zusammenhänge. Die p. V. hat nunmehr den Status einer Prüfung von Konsistenz und Zweckrationalität: Der Mensch hat zu prüfen, ob die intendierten Zielzustände mit anderen basalen Zielzuständen verträglich sind und ob der Zweck mit anderen wünschenswerten Zwecken kollidiert. Der Mensch ist prinzipiell in Situationen gestellt, in denen er aufgefordert ist, in Erfahrung zu bringen, wie die jeweilige Situation beschaffen ist, in der er handeln soll oder muss. Er muss den Weg zu einer effektiven Handlungswirklichkeit (mit Hilfe der Wissenschaften) begründet angeben können. Eine derartige p. V. kann aber keine Aussage darüber machen, ob und warum ein Zweck erstrebenswert ist und warum alle danach streben sollen, und bietet somit keine Antwort auf die Frage, wie der Mensch sein Leben gestalten soll. – Kant bestreitet dem auf Nützlichkeit ausgerichteten Denken nicht generell den Charakter einer p.n V. In solchen subjektiven Regeln, die sich der Handelnde gesetzt hat, kommt seiner Ansicht nach die einfache p. V. zur Geltung. Er macht allerdings darauf aufmerksam, dass solche Zwecksetzungen nicht den Charakter des Allgemeinen für sich in Anspruch nehmen können. Wenn aber Handeln nicht ohne Zweckstruktur zu denken ist, die subjektiven Zwecksetzungen aber zu heterogenen Glückseligkeitsvorstellungen führen, bedarf es eines besonderen Verfahrens, um die Allgemeinheit sicherzustellen. Der kategorische Imperativ bietet dazu die geeignete Handhabe, die Übereinstimmung der subjektiven Maximen mit einer uneingeschränkten Allgemeingültigkeit herzustellen, indem er fordert: Handle so, dass die Maxime deines Willens jederzeit zugleich als Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gelten könne. Er fordert zu keiner konkreten Handlung auf, sondern verlangt eine bestimmte Weise des Handelns im Allgemeinen, die unbedingte Geltung beanspruchen kann. Kant erreicht damit die doppelte Frageperspektive der p.n V., nämlich wie der Mensch sein Handeln an einer selbstgesetzten Perspektive ausrichten kann und welcher Maßstab des Vernünftigen dabei in Rechnung zu stellen ist. Wenn die Materie den Willen bestimmt, dann wird der Mensch von seinen Neigungen zu irgendeinem Inhalt (oder Glücksvorstellung) gelenkt. Dadurch kann er nicht seinem Anspruch auf p. V. entsprechen, vielmehr begibt er sich damit in Abhängigkeit einer Fremdbestimmung der naturhaften Triebe. Zu einer Selbstbestimmung findet er nur in Absehung von jedem Objekt. Das entspricht zunächst der negativen Bestimmung von Freiheit (von Fremdbestimmung). In positiver Bestimmung realisiert sich die Freiheit in der Autonomie. Das Prinzip der Autonomie wiederum schließt bei Kant ein, dass sich das Subjekt nur unter dasjenige Gesetz stellt, welches es sich selbst gegeben hat. Freiheit wird von der p.n V. positiv als Bestimmung der Willkür durch die bloße allgemeine gesetzgebende Form begriffen, d.h. der Mensch hat zu prüfen, ob seine subjektiven Maximen sich unter eine solche allgemeine Form subsumieren lassen. Das Prüfungsinstrument dazu stellt der kategorische Imperativ dar. – Der von Apel und Habermas vertretene Ansatz einer kommunikativen p.n V. unternimmt den Versuch, den kategorischen Imperativ Kants, der sich an das einzelne Vernunftsubjekt richtet, in einen rationalen Dialog zu transponieren. Der Geltungsanspruch moralischer Normen soll von einer intersubjektiven Rechtfertigung in einem Verfahren wechselseitiger argumentativer Begründung abhängig gemacht werden. P. V. wird so zur kritischen, begründenden Vernunft, die Prinzipien nur dann als begründet gelten lässt, wenn sie allgemein gerchtfertigt sind. Dadurch sucht sie den moralischen Autonomiebegriff intersubjektiv-prozedural zu reformulieren. Als programmatischer Satz gilt: P. V. ist das Vermögen und die Bereitschaft, begründet zu handeln – p. V. ist begründende Vernunft in intersubjektiven Kontexten. Eine solcherart p. V. trägt zum einen dem Umstand Rechnung, dass wir auf keine objektiven Werte oder lebensweltlichen Gewissheiten rekurrieren können, wenn die Frage beantwortet werden soll, wie wir zu handeln haben. Sie unterlässt es aber auch, solche Normvorgaben zu erstellen. Vielmehr trägt sie der geschichtlichen Veränderbarkeit einerseits und der möglichen Partikularität solcher Vorstellungen andererseits dadurch Rechnung, dass sie ein kritisches Fragepotential an gesellschaftlich vorfindliche normative Gehalte heranträgt. P. V. ist kommunikativ begründende, aber auch sich selbst hinterfragende Vernunft. Sie fordert die Gründe ein, auf denen die Geltung bestimmter Werte oder Normen in den Gemeinschaften beruht.
PP
LIT:
- K.-O. Apel: Das Apriori der Kommunikationsgemeinschaft und die Grundlagen der Ethik. In: Tranformation der Philosophie. Bd. II. Frankfurt 1973. S. 358 ff
- R. Bubner: Handlung, Sprache und Vernunft. Frankfurt 1976
- Ders.: Geschichtsprozesse und Handlungsnormen. Frankfurt 1984
- R. Forst: Kontexte der Gerechtigkeit. Frankfurt 1994
- J. Habermas: Vom pragmatischen, ethischen und moralischen Gebrauch der praktischen Vernunft. In: Erluterungen zur Diskursethik. Frankfurt 1991. S. 100 ff
- Ders.: Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt 1981
- H. Schndelbach: Vernunft. In: E.Martens/H. Schndelbach (Hg.): Philosophie. Reinbek/Hamburg 1985. S. 77 ff
- W. Wieland: Aporien der praktischen Vernunft. Frankfurt 1989
- G. Zenkert: Konturen praktischer Rationalitt. Wrzburg 1989.
Vernunft,theoretische
Spezifizierung des Vernunftbegriffes, die den bestimmten Gegensatz zur praktischen V. darstellt. Th. V. bezeichnet generell – im Unterschied zur bloßen sinnlichen Wahrnehmung – das Ensemble geistiger Vermögen, die das Erkennen prinzipiieren. Praktische V. hingegen ist begründend für das Handeln. Platons Vernunftkonzept ist theoretisch fundiert und orientiert. Im Phaidon (79 a-e) nennt Platon den Verstand resp. th. V. als eigentliches Seelenfundament des Menschen, das die rezeptive Schau der Ordnung des Seins ermöglicht. Im Staat (35–444) unterscheidet er den rationalen Seelenteil (logistikon) vom Mut (thymos) und der Begierde (epithymia), differenziert somit zwischen theoretischer, kontemplativer Rationalität – in die auch die Idee des Guten gehört – und leibabhängigen Seelenteilen (der Vorbedingung der praktischen Rationalität). Der rational-theoretische Seelenteil ist eindeutig den »praktischen« Teilen vorgeordnet, denn nur dem rationalen Seelenteil kommt die Postexistenz zu. Die Seele erkennt am besten nach dem Tode, wenn sie von den praktischen, erkenntnisverstellenden Ansprüchen der leibbedingten Seelenteile – dem muthaften und begierdehaften – getrennt ist (Staat 611c und Phaidon 64–67). – Für Aristoteles ist der tätige Verstand den Gegebenheiten der Sinnlichkeit gegenüber genauso souverän wie der Künstler gegenüber seinem Stoff (de an. 430a ff.). Aristoteles differenziert zwischen th. V. (nous theoretikos) einerseits und praktischer V. (nous praktikos) oder auch praktischem Verstand (dianoia praktike) andererseits (de an. 433 a 13 ff). Die praktische V. ist von der theoretischen durch das Ziel (to telei) geschieden. Die th. V. hat nicht in einem Zweck ihr Prinzip und ist im Gegensatz zur praktischen eine solche, die nicht durch Streben nach Zwecken »bewegt« wird. – Mit Kant erfährt der Vernunftbegriff die letzte neuzeitliche Prägung. Th. V. hat für Kant eine engere und weitere Bedeutung. Im weiteren Sinne ist sie das System aller Prinzipien des Denkens, die die Erkenntnis ermöglichen. Die konstitutiven Denk-Bedingungen der Gegenständlichkeit, die über die Prinzipien der Anschauung hinaus auch noch den Anschauungsgegenstand letztfundieren, nennt er Kategorien. Sie sind Resultat einer Transformation der Urteilsformen (KrV, Transzendentale Deduktion). Kant lehrt, dass die Eigenbestimmtheit des Denkens, die die formale Logik darlegt, zu Bedingungen transformierbar sein müsse, denen jeder Gegenstand zu genügen habe, soll er auch nur als Gegenstand in der Anschauung gegeben werden können. Das Totum der gegenstandskonstitutiven Prinzipien des Denkens heißt bei Kant reiner Verstand. Neben dem Verstand ist th. V. im engeren Sinne der zweite Hauptbestandteil von th.r V. im weiteren Sinne. Auch die Weisen, wie Vernunftschlüsse vollzogen werden, gehören zur Eigenbestimmtheit des Denkens – genauso wie die Urteilsformen. Deshalb können die Schlussarten zu Ideen transformiert werden (KrV, Transzendentale Dialektik). Die drei Ideen sind Seele, Welt und Gott. Die Ideen beziehen sich nicht konstitutiv auf Anschauungsgegenstände, sondern regulativ auf die Erfahrungsoperation des Verstandes. Somit fallen unter die Ideen keine Gegenstände, sondern sie sind vielmehr strukturierend für den Erfahrungsgebrauch des Verstandes. Die jeweilige Vernunftidee projektiert die durchgängige, systematische Einheit der Gegenstände ihrer Sphäre und veranlasst den Verstand, durch stetigen Rückgang zu immer neu empirisch konstatierbaren Bedingungen im empirischen Forschen, diese Einheit nachzuweisen. Aus Gründen der Urteilstheorie, die auch das Fundamentalprinzip der Unbestimmtheit als notwendiges Moment des Urteils aufweist, kann dies aber der Verstand nie realiter leisten. Hält man die Vernunftidee fälschlich für den konstitutiven Begriff eines Gegenstandes, so wird V. dialektisch und gerät in Antinomien. – Im Gegensatz zum unendlichen Streben der praktischen V., alle Realität zu sein, hat für den frühen Fichte die th. V. die Funktion, das Ich gegenüber dem Nicht-Ich zu begrenzen und dadurch als endliche V. auszuweisen (Grundlage der gesamten Wissenschaftslehre). – In Hegels absoluter Idee ist V. das Totum aller Realität, so dass Rationalität der durchgängige Selbstgegenstand seiner selbst ist. Th. und praktische V. können deshalb als Momente der Selbstentfaltung der einen Idee verstanden werden. Vernunft, Vernunft, praktische.
RHI
LIT:
- H. Albert: Traktat ber kritische Vernunft. Tbingen 51991
- H.M. Baumgartner: Endliche Vernunft. Zur Verstndigung der Philosophie ber sich selbst. Bonn 1991
- W. Flach: Grundzge der Erkenntnislehre. Wrzburg 1994
- K. Konhardt: Die Einheit der Vernunft. Zum Verhltnis von theoretischer und praktischer Vernunft in der Philosophie Kants. Knigstein/Ts. 1979
- Gerold Prauss: Kant ber Freiheit als Autonomie. Frankfurt 1983
- G. Schnrich: Zeichenhandeln. Untersuchungen zum Begriff einer semiotischen Vernunft im Ausgang von Ch. S. Peirce. Frankfurt 1990
- H. Wagner: Philosophie und Reflexion. Mnchen/Basel 31980.